Was es heißt, in Armut zu leben
Wie kommen Menschen zurecht, die jeden Cent umdrehen müssen?
Zwei Betroffene aus dem Rems-Murr-Kreis erzählen. Foto: Ulrich/PixabayArtikel erschienen in der WKZ am 16.07.2024,Redakteur Herr Peter Schwarz
Ein Dauerskandal, der kaum zur Kenntnis genommen wird: Armut in einem reichen Land. Zwei Betroffene aus dem Rems-Murr-Kreis erzählen von den grotesken Tücken, mit denen sie im Alltag zu kämpfen haben, und den verzweifelten Tricks, mit denen Menschen, denen hinten und vorne das Geld fehlt, sich durchzuschlagen versuchen.
Eine politische Debatte, was gegen Armut zu tun wäre, gibt es derzeit kaum in Deutschland. Diskutiert wird über anderes. Handelsblatt: "Merz will Bürgergeld abschaffen." Tagesschau.de: "FDP will Sozialleistungen kürzen." Dabei nennt selbst die Zeitung "Die Welt", sozialistischer Anwandlungen gänzlich unverdächtig, Kinderarmut einen "Langzeitskandal". Eigentlich, findet Marc Dressel, Leiter der Caritas Ludwigsburg Waiblingen Enz, "müsste jede Partei damit in den Wahlkampf gehen", Armut sei ein "Gigathema". Nur: "Wir trauen uns nicht, es so zu benennen."
Aber wie fühlt Armut sich konkret an? Versuchen wir uns an einer Nahaufnahme.
Mit dem bisschen Geld durch den Tag kommen zu müssen, ist ein Riesenproblem, aber wenn Hildegard Dahmend (Name geändert) erzählt, beschleicht einen der Eindruck: Manchmal noch zehrender ist die permanente Demütigung, die damit einhergeht.
Eigentlich kann sie stolz auf sich sein: Sie ist jetzt 60, seit Jahrzehnten muss sie strampeln, der Ex-Mann lebt im Ausland, Unterhaltszahlungen Fehlanzeige - und doch hat sie es geschafft, alleine zwei Töchter großzuziehen, die eine will studieren, die andere eine Ausbildung machen. Sie lebe auf "der Grundlage der Bibel", sagt Frau Dahmend, diesen Kompass habe sie den Töchtern mitgegeben. Während sie ums Wohl der beiden rang, kämpfte sie nebenbei ums eigene Überleben: Vor fünf Jahren hatte sie eine schwere Krebserkrankung durchzustehen.
Sie bezieht 1200 Euro Erwerbsminderungsrente und 200 Euro Wohngeldzuschuss, für eines der beiden Mädchen bekommt sie noch 250 Euro Kindergeld - damit überweist sie pünktlich die 600 Euro Miete, in der Regel kann sie auch die Stromrechnung irgendwie bezahlen. Irgendwer müsste ihr wirklich mal sagen: Respekt vor dieser Lebensleistung!
Stattdessen vernimmt sie ein anderes Echo, immer dasselbe: "Man fühlt sich beschämt, und man fühlt sich erniedrigt."
Sie wollte einen Bürgergeld-Antrag im Jobcenter für die Tochter stellen. Also kratzten sie das Fahrgeld zusammen und pilgerten hin; natürlich habe sie kein Auto, sagt Frau Dahmend. Sie fand sich in einer langen Schlange, zusehends erschöpft - seit der Chemo müsse sie sich eigentlich "oft hinsetzen". Irgendwann habe sie eine Broschüre gekriegt, in der stand, wie man den Antrag ausfüllen soll. Sie habe gesagt: Wir möchten mit einem Berater reden. Das, hieß es, gehe nicht. Kann ich bitte einen Vorgesetzten sprechen? Sie könne sich, hieß es, gerne schriftlich beschweren.
Eine Tochter wollte ein Instrument lernen. Frau D. erfuhr: Über das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket könnten ihr dafür zehn Euro pro Monat bewilligt werden. Na gut, beschloss Frau Dahmend, den Rest zahl’ ich selbst. Sie fand einen Musiker, der es billig machen würde: 60 Euro im Monat. Das Problem schien gelöst. Bis sich herausgestellt habe: "Der zählt nicht" - es müsse "ein registrierter Musiklehrer" sein.
Keinem Kind, so lautete das politische Versprechen, solle durch Corona ein Bildungsnachteil entstehen. Als in jener Zeit die jüngere Tochter in der Realschule zu kämpfen hatte, wollte Frau Dahmend über das Bildungs- und Teilhabepaket Mathe-Nachhilfe organisieren. Voraussetzung dafür sei ein Nachweis via Lehrerbrief gewesen, dass das Kind versetzungsgefährdet ist - aber die Tochter war einfach nicht schlecht genug! Und so hat das Mädchen, das früher in Mathe gut zurechtkam, nun eine Vier im Abschlusszeugnis stehen.
Sie sei so "müde, mit den Behörden um ein paar Euro zu kämpfen", sagt Frau Dahmend. Das mache einen "bitter" mit den Jahren, die Nerven würden "immer dünner".
Zu dritt ins Schwimmbad gehen: wie das finanzieren, dreimal Busfahrt hin und zurück, dreimal Eintritt? Ein Fahrrad kaufen: "von welcher Rücklage?" Es zermürbe einen, den Kindern wieder und wieder sagen zu müssen: "Wir können nicht."
Immer, wenn sie "am Abgrund" stehe, "kommt noch einer und schubst": Leben in Armut, das ist ein artistisches Kunststück, ein Dauerbalanceakt auf der Klippe.
Soziale Ungleichheit gab es schon immer? "Soziale Ungleichheit", sagt Marc Dressel von der Caritas, "hat massiv zugenommen." Aber das werde "tabuisiert".
Das Durchschnittsvermögen der reichsten zehn Prozent in Deutschland war 1993 fünfzigmal so hoch wie das der kompletten ärmeren Bevölkerungshälfte - heftig. Im Jahr 2018 aber besaßen die oberen zehn Prozent hundertmal so viel wie die unteren 50 Prozent - Irrsinn.
Das Sprachbild, wonach die Schere immer weiter aufklaffe, passe eigentlich nicht, sagt Dressel. Denn eine Schere hat zwei gleich lange Schneideblätter; bei der Reichtumsverteilung entfernt sich ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung immer weiter von einem immer größeren.
Die Geschichte von Frau Dahmend sei nicht untypisch: Alleinerziehende sind besonders gefährdet. Kinder zu bekommen, "ist ein veritables Armutsrisiko". Und typisch seien auch die Corona-Erfahrungen der Tochter: Chancengleichheit in der Bildung? Eine Fata Morgana. Es sei ein enormer Unterschied, im Lockdown auf 200 Quadratmetern Wohnfläche beisammenzuleben, mit einem PC in jedem Zimmer und genug Geld für Nachhilfeunterricht - oder "zu dritt mit zweieinhalb Zimmern" und einem Budget am Daueranschlag.
Frau Labenz (Name geändert) ist 76, in ihrem Leben hat sie viel gearbeitet: Anfangs war sie in einem Beruf tätig, aber dann kamen die Kinder: Sie kümmerte sich um die Kleinen. Ihre Mutter wurde ein Pflegefall, für sie "musste ich auch da sein". Der erste Mann starb, sie heiratete erneut, auch den zweiten Gatten pflegte sie bis zu seinem Tod. "Care work", heißt das in der Forschung, Sorgearbeit. Das kann ein Knochenjob sein; nur gibt es dafür weder Gehalt noch Rente.
Ihr zweiter Ehemann sei "sehr dominant" gewesen. Er hatte eine Firma, sie geriet in Schieflage, der Mann meldete Insolvenz an - und baute gleich wieder einen neuen Betrieb auf; diesmal lief das Geschäft pro forma auf den Namen der Frau. Um ihre Unterschrift zu bekommen, habe er geworben und gedroht: "Dir passiert nichts, du brauchst keine Angst zu haben", und wenn du jetzt nicht den Stift nimmst, gehe ich!
"Ich hätte ihn vielleicht gehen lassen sollen." Aber "ich war so blöd und hab’ unterschrieben".
Nach seinem Tod im März 2023 "kamen die ganzen Sachen raus". Im Briefkasten: "Post, Post, Post" von Gläubigern. "Ich wusste nicht mehr, wo mir der Kopf steht." Das Beerdigungsinstitut konnte sie noch bezahlen; wegen der Grabstelle seien aktuell 1500 Euro offen, "die stottere ich ab", mit 100 Euro im Monat.
Sie hat jetzt ein P-Konto, p wie pfändungsfrei. Sie traue sich kaum noch, "den Briefkasten aufzumachen", aber sie tut es dann doch, und manchmal beantwortet sie auch eines der Schreiben. Ein Anwalt riet ihr davon ab, es gebe bei ihr nichts zu holen, "Sie brauchen jetzt ein dickes Fell". Aber die Briefe "belasten mich": Sie wolle doch nichts schuldig bleiben und mache sich Vorwürfe. "Warum war ich so blöd", warum habe sie "zu allem Ja gesagt"? Die Post "einfach weglegen", das "muss ich noch lernen".
Frau Labenz bezieht 518 Euro Rente und 755 Euro Witwenrente, davon ab gehen 550 Euro Miete, dazu Strom, Essen, Kosten für Medikamente, weil die Kasse nicht alles übernimmt, und dies und das. "Ich lebe am Minimum", aber sie komme zurecht, sie sei ja allein, "da braucht man nicht viel".
Sie schaut nicht mehr viel fern, wegen des Stroms. Und in der Regel gehe sie schon ins Bett, solange es noch hell ist, "um Licht zu sparen". Die Dusche ist so eingestellt, dass weniger Wasser kommt.
Sie hat sechs Enkel und zwei Urenkel; Frau Labenz lächelt, während sie davon erzählt. Und einmal strahlt sie im Gespräch, sie leuchtet regelrecht: Sie arbeite als Ehrenamtliche in einer Schulküche - Geschirr spülen, drei Tage die Woche je zwei Stunden. "Man sieht andere Leute. Kinder!" Hier hat sie eine Aufgabe, "daheim fällt mir die Decke auf den Kopf". Nützlich zu sein: Das ist schön.
Jeder Fall ist anders, aber viele ähneln sich. Oft trifft es Menschen wie Frau Labenz, die ein Leben lang für andere da waren und am Ende keine ausreichende Rente für sich selber haben. Typisch an dieser Geschichte, sagt Petra Tolksdorf, bei der Caritas Leiterin des Bereichs Existenzsicherung und Integration, sei auch dies: "Armut führt zu sozialer Isolation."
"Armut ist vererbbar", sagen Dressel und Tolksdorf, werde oft "über Generationen" weitergegeben. "Wir propagieren gesellschaftliche Chancengerechtigkeit - was de facto passiert, ist das absolute Gegenteil": Fast 70 Prozent der Gymnasiasten haben Eltern mit Abitur. 77 Prozent der Kinder aus gut ausgestatteten Familien machen Vereinssport, bei Kindern aus armen Familien sind es zwölf Prozent.
Wenn man die politischen Debatten verfolgt, könnte man den Eindruck gewinnen, dass nicht Armut das Problem sei, sondern der Kampf dagegen. Man muss die Sozialleistungen kürzen! Das System ist aus dem Ruder gelaufen! Zu viele liegen dem Staat auf der Tasche! So dröhnt es. Richtig daran ist, dass früher tatsächlich manches besser war - nur auf andere Art, als die "Wir müssen bei den Armen sparen"-Jünger meinen: 1987 gab es in Baden-Württemberg fast 300 000 Sozialwohnungen, und "schon damals redete man von Wohnraumnot". 2019 waren es noch knapp 54 000.
Tafelläden sind nichtstaatliche gemeinnützige Einrichtungen. 1997 gab es 90 in ganz Deutschland. Mittlerweile: fast 1000. Die Tafel-Leute sind zu feiern: Sie leisten zupackende, pragmatische, verlässliche Hilfe, weitgehend ehrenamtlich. Billiges Essen für Menschen, die sich nicht viel leisten können: gute Idee. "Das Schlimme" sei nur, sagt Tolksdorf, "dass wir das als normal empfinden mittlerweile." Die Politik plane die Tafeln unter der Hand ein als "festen Bestandteil der Daseinsvorsorge", ergänzt Dressel, und das "ist ein Skandal".
Wer Armut in einem reichen Land als tödliche Schweinerei bezeichnen würde, setzte sich wohl dem Vorwurf aus, ein enthemmter linker Klassenkämpfer zu sein, der radikal überzogene Phrasen drischt. Nur hätte so jemand die Statistik auf seiner Seite: Laut Robert-Koch-Institut liegt die Lebenserwartung von Frauen aus der Armutsrisikogruppe acht Jahre unter der von Frauen mit höheren Einkommen. Bei Männern sind es sogar elf Jahre. Armut bringt um.
Wenn Politiker so tun, als hätten wir in Deutschland kein gravierendes Gerechtigkeitsproblem, dann sei das, sagt Marc Dressel, "schlicht ein Akt von Realitätsverweigerung".